Vor allem Long-Covid Folgen sind nicht zu unterschätzen. Autoimmunkrankheiten, Demenz, Herz- und Gehirnschäden könnten langfristig zunehmen, warnt der Forscher schon jetzt und rät zur Impfung.
Der Immunologe Wolfgang W. Leitner (MSc, PhD), der an der Uni Salzburg bei Prof. Josef Thalhamer Biochemie und Immunologie studierte, hat in den USA Karriere gemacht. Er arbeitet in einem der weltweit führenden Einrichtungen in Sachen COVID-Forschung in leitender Position, und zwar am National Institute of Allergy und Infectious Diseases (NIAID). Chef dieser in Bethesda, Maryland nahe Washington DC angesiedelten Bundesinstitution und unmittelbarer Vorgesetzter Wolfgang Leitners ist der bekannte Immunologe Prof. Anthony S. Fauci – als führender und streitbarer Pandemie-Experte so etwas wie der Dr. Drosten der USA.
Wir von der PULS-Redaktion sind schon seit dem Ausbruch der Pandemie im Jahr 2020 mit Wolfgang Leitner in Kontakt und wir konnten ihn auch kürzlich zu neuesten Forschungsergebnissen über mögliche Spätfolgen von SARS-CoV-2-Infektionen, über Booster-Impfungen und auch über seine Meinung zur verbreiteten Impfskepsis befragen. Auch von neuen, bereits zugelassenen Impfstoffen hat er uns berichtet, die vielleicht bald auch in Europa auf den Markt kommen werden und zu deren Entwicklung Wolfgang Leitner und seine Abteilung am Institut mit der Bereitstellung von Adjuvantien (Hilfsstoffe zur Verstärkung der Wirksamkeit) einen wichtigen Beitrag leisten konnte.
Stichwort neue Impfstoffe:
Darauf ist er wohl zu Recht ein wenig stolz - auf zwei „Durchbrüche“ im positiven Sinne, wie er es nennt, weil zwei kürzlich international zugelassene COVID-Impfstoffe Adjuvantien „direkt aus meinem Portfolio enthalten“ – und zwar Covaxin, das bereits in 17 Ländern verwendet wird und Spikogen, das vor Kurzem im Iran zugelassen wurde. Einen einzigen positiven Aspekt aus der Perspektive von Wissenschaft und Forschung kann Wolfgang Leitner der Pandemie abgewinnen: „Dass die neuen Impfstofftechnologien wie etwa mRNA, die ja schon lange vorher bekannt waren, durch die Pandemie so rasch die Chance erhalten haben, sich zu beweisen“. Das hat einen gewaltigen Schub ausgelöste, vor allem, was weitere Impfstoff-Entwicklungen betrifft, hat sich in den vergangenen Monaten und Wochen sehr viel getan und zahlreiche neue und neuartige Präparate sind in der Pipeline oder sogar schon zugelassen und verfügbar. Ein neuer Impfstoffe, Novovax, der gerade in Indonesien zugelassen wurde und bald auch in den USA, gehört zur gleichen Kategorie wie Spikogen (rekombinantes Protein in beiden Faellen das S-Provtein- mit Adjuvants). Ansonsten sind sie unterschiedlich in Bezug auf wie (in welchen Zellen) das Protein hergestellt wird und welches Adjuvants verwendet wurde – genauso wie schon seit Jahren der Hepatitis-B-Impfstoff funktioniert, erklärt Leitner. „Sehr aufregend“ findet der Molekularbiologe überhaupt die neuen Adjuvantien, die viel besser seien als bisher verwendete. Etwa Matrix M, das auf einem Molekül in der Rinde des Seifenbaums aus Chile basiert. Eine Entwicklung, die dank der neuen Adjuvantien Türen öffnet auch, für Impfungen gegen andere Krankheiten.
Booster-Impf-Auffrischung.
Wolfgang Leitner: „Für fast alle Impfstoffe braucht man gelegentlich eine Auffrischung. Bei SARS-CoV-2 sind wir nach wie vor mitten in einem Lernprozess: das Pathogen ist neu und die Impfstoff-Plattformen (z.B. mRNA) sind es auch, was heißt, dass es derzeit noch schlicht unmöglich ist vorherzusagen, wann genau wir eine Auffrischung brauchen. Daten von Ländern, die frühzeitig flächendeckend immunisiert haben (z. B. Qatar, Israel) haben gezeigt, dass sechs Monate nach der zweiten Dosis (zumindest mit dem Pfizer Impfstoff) der „Schutz” auf zwanzig Prozent gefallen ist. Wobei man „Schutz” genau definieren muss: Schutz vor Infektion, Schutz vor Krankheit, oder Schutz vor schwerem COVID-Verlauf und Tod? Die zwanzig Prozent beziehen sich auf Schutz vor einer Infektion, man ist aber dann immer noch gut geschützt vor Erkrankung und schweren Verläufen“.
Wolfgang Leitner gibt grundsätzlich zu bedenken: „Je mehr Leute eine Booster-Auffrischung bekommen, desto weniger Menschen können die Infektion weitergeben. Im Winter geht ohnedies die Infektionsrate von respiratorischen Infektionen automatisch hoch und wenn gleichzeitig der Impfschutz nachlässt, ist eine neue Welle garantiert. Außerdem nehmen zu viele Menschen die Infektion nicht ernst weil Infektionen oft ohne Symptome verlaufen, man das Virus aber trotzdem weitergeben und andere Menschen oft unwissentlich infizieren kann“.
Achtung Long Covid.
Ein Thema, das Wolfgang Leitner zunehmend Sorgen bereitet, denn erst langsam beginnt man, das Virus mit seinen vielfältigen langfristigen Auswirkungen auf den menschlichen Organismus zu verstehen. Leitner: „Je nach Studie und je nachdem wie die Symptome eingeordnet werden, haben bis zu 20 Prozent der asymptomatischen Patienten und über 70 Prozent der symptomatischen Patienten, die schwere Krankheitsverläufe hatten, langfristige Gesundheitsprobleme. Das Spektrum reicht von kognitiven Problem (Gehirnschäden) über Herzschäden, Nierenschäden bis zu Autoimmunerkrankungen etc.“ Hier gibt Leitner zu bedenken, dass viele dieser Probleme auf eine Schädigung in Blutkapillaren als Folge der Infektion zurückzuführen seien. „Ich persönlich will nicht ausschließen, dass wir in ein paar Jahren viel mehr Fälle von Demenz nicht nur bei über 60-jährigen sehen werden als Folge der Schäden bei Blutgefäßen im Gehirn“. Eine weitere Long-Covid-Folge hat Leitner überrascht, vor allem was die Geschwindigkeit betrifft: „Ich hatte ganz früh in der Pandemie vorhergesagt, dass wir einen Anstieg bei Autoimmunkrankheiten sehen würden. Bei vielen dieser Erkrankungen wird ja vermutet, dass der Auslöser eine lange zurückliegende Infektion gewesen sein könnte. Ich hatte erwartet, dass wir dies in ein paar Jahren sehen würden. Da hatte ich nicht recht: schon innerhalb weniger Wochen nach der Infektion entwickeln manche COVID-Patienten Diabetes. Leitner: „Das zeigt einfach nur, dass COVID kein harmloser Schnupfen ist und auch wenn man keine oder nur milde Symptome hat, ist schwer wenn nicht sogar unmöglich vorherzusagen, ob und welche Schäden in 10 oder 20 Jahren auftreten können.“
Falsche Impfskepsis.
„Ich fürchte mich viel mehr vor den Spätfolgen einer Covid-Infektion als vor den höchst unwahrscheinlichen späten Nebenwirkungen einer COVID-Impfung“, so die ganz klare Risiko-Abwägung eines Wissenschaftlers, der das Virus angesichts des Fachbereiches Molekularbiologie und Immunologie, in dem er seit Jahren weltweit führend forscht, so gut kennt wie nur ganz wenige Menschen. „Da es die Menschheit leider nicht geschafft hat, eine Pandemie zu verhindern (wie etwa bei SARS-1 oder MERS) und so viele Menschen sich weigern mitzuhelfen, das Virus unter Kontrolle zu bringen, ist es unvermeidbar, dass COVID zu einer Endemie wird – möglicherweise wie die Grippe für immer. Das heißt, jede und jeder wird im Endeffekt dem Virus ausgesetzt sein und muss sich die Frage stellen, ob er/sie auf diese Infektion vorbereitet sein will oder ob man sich das Virus ohne Impfschutz einfängt, schwer erkrankt und womöglich mit schweren, langfristigen, vielleicht sogar lebenslänglichen Gesundheitsproblemen zu kämpfen hat. Leitner abschließend: „Jemand der Angst vor der Impfung hat, sollte wirklich Angst vor dem Virus haben!“